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Eisbären und der Traum von Modelmaßen

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Eisbären, die krampfhaft versuchen, kein Fett anzufuttern, Eichhörnchen, die zum tierischen Muskelprotz mutieren oder kalorienzählende Walhaie – klingt alles ziemlich abwegig, oder? Trotzdem ist der eigene Körper und vor allem dessen Gewicht in unserer Gesellschaft ein riesengroßes Thema. Doch warum machen wir uns darüber überhaupt Gedanken? Ich denke, weil wir häufig vergessen, dass der Körper vor allem Mittel zum Zweck und kein Zweck an sich ist. Natürlich kann man nicht nicht über das eigene Erscheinungsbild nachdenken, dafür hat es in unserem Leben eine viel zu große Bedeutung. Aber man kann ab und zu einfach mal die Perspektive wechseln und sich überlegen, wie das Leben mit diesen Sorgen aussehen würde, wenn man ein anderes Lebewesen wäre. Und genau das versuche ich jetzt!

Stell dir vor, du befindest dich knapp 5.000 Kilometer weiter nördlich im klirrend kalten arktischen Winter. Über deiner tiefschwarzen Haut trägst du ein gelblich-weißes Fell und deine kräftigen, behaarten Tatzen tragen dich auf leisen Sohlen über das Packeis. Die Nase im Wind und Ohren gespitzt, suchst du die dicke Eisschicht nach einem Atemloch ab. Da! Unter dem Eis vernimmst du den zarten Geruch einer Robbe und erblickst einige Augenblicke später das schimmernd blaue Polarmeer inmitten der weißen Schneelandschaft. Vorsichtig bewegst du dich auf das Atemloch zu und wartest darauf, eine Robbe beim Luftholen zu erblicken. Ein Schatten nähert sich der Oberfläche und bald darauf taucht ein kegelrunder Kopf mit Knopfaugen aus dem Wasser. Jetzt gilt es, blitzschnell mit den Pranken zuzuschnappen und das unvorsichtige Tier zu deinem Nachmittagssnack zu deklarieren, aber du hattest heute Morgen schon ein paar Fische, kannst du es dir da überhaupt noch erlauben, jetzt eine fettige Robbe zu vertilgen?

In diesen wenigen Sekunden, in denen ein Eisbär zögert, seine Beute einzufangen, erfasst diese die Situation und verschwindet zurück ins Wasser, wo sie sich auf den Weg ins offene Meer macht. Dort hat der Eisbär keine Chance mehr, einen Jagderfolg zu verzeichnen. Die Wahrscheinlichkeit ist nun also hoch, dass der Eisbär die nächsten Tage hungern muss, denn nicht jede Robbe ist so unvorsichtig und taucht direkt vor seiner Nase aus ihrem Atemloch auf. Beim ersten Mal ist das noch kein Problem für den Eisbären, denn er hat sich im Normalfall in besseren Zeiten einige Fettreserven, die ihn nicht nur warmhalten, sondern ihn auch durch längere, erzwungene Fastenzeiten bringen, angelegt. Aber wäre das auch so, wenn er von einer Modelkarriere träumt?

Nach deinem selbstverschuldeten Misserfolg bei der Jagd verlässt du deine Lauerstellung am Atemloch und findest dich damit ab, den restlichen Tag hungrig zu verbringen und erst am nächsten Tag wieder auf die Pirsch zu gehen. Du wolltest sowieso auf deine Linie achten, da kommt so eine erzwungene Diät eigentlich ganz gelegen. Doch am nächsten Tag ist es sehr warm und die Sonne bringt große Mengen des Packeises, auf dem kein Beutetier eine Chance gegen dich hat, zum Schmelzen. Du bist gezwungen ins Wasser auszuweichen und dein Glück dort zu versuche. Doch hier sind die Robben eindeutig im Vorteil und du kannst mit ihren flinken Finten und Richtungsänderungen unter Wasser nicht mithalten. Außerdem beginnst du langsam zu frieren und musst deine Jagd aufgeben.

In den Sommermonaten, wenn große Teile des arktischen Packeises schmelzen und das arktische Meer preisgeben, sind die meisten Eisbären gezwungen, sich ins Landesinnere zurückzuziehen und mit dem auszukommen, was ihnen dort an Nahrung geboten wird. Eisbären, die nahe der Tundra und Taiga leben, wandern in seltenen Fällen bis dorthin, um von den knappen Ressourcen zu profitieren, die diese Lebensräume bieten. In der Regel stellen die Allesfresser dann ihre Ernährung auf vegetarisch um und verspeisen beispielsweise Beeren. Ist auch dieses Nahrungsangebot ausgeschöpft oder schlichtweg nicht vorhanden, so treten die Eisbären eine Fastenzeit an, in der sie ihren Stoffwechsel umstellen und lediglich Seetang oder Seegras fressen, um ihr Verdauungssystem aktiv zu halten. Essenziell dafür, dass sie solche in Extremfällen bis zu zwölfmonatigen Hungerphasen überleben können, ist der vorherige hohe Fettverzehr mit einer Nahrungsaufnahme teilweise weit über das eigene Körpergewicht hinaus.

Obwohl die Sonne scheint, bleibt die Arktis klirrend kalt und auch das Ozeanwasser erwärmt sich nur geringfügig. Deine sowieso schon dünne Fettschicht schrumpft und du beginnst zunehmend zu frieren. Deine Körperbewegungen werden langsamer, in den Schlaf findest du kaum mehr und die Erfolgserlebnisse bleiben aus. Du hast nun nicht nur seit Ewigkeiten nichts mehr zu fressen erbeuten können, sondern auch keinen Erfolg bei der Partnersuche und somit in diesem Sommer keine Chance deine Gene in die nächste Generation zu bringen.

Eisbären unterliegen wie alle Lebewesen einem hohen Selektionsdruck. Das wird vor allem bei der Partnerwahl deutlich. Denn nicht jeder Eisbär wird zur Paarung auserwählt. Da bei den Eisbären das Weibchen die Jungen austrägt, hat es die Qual der Wahl. Es achtet deshalb bei großer Auswahl darauf, einen so gesunden und resistenten Partner wie nur möglich zu finden, um ebenfalls möglichst fitte Jungen zur Welt zu bringen. Hinweise auf den Gesundheitszustand und die Fitness eines Männchens liefern dabei äußere Merkmale, wobei bei den Eisbären vor allem die Größe und das Gewicht ausschlaggebend sind. Denn nur fitte und gesunde Tiere sind erfolgreiche Jäger und können es sich leisten, groß zu werden. Zu Beginn der Paarungszeit im März, also zum Ende des arktischen Winters hin, bereits ausgehungerte Männchen haben es daher schwer, einen Paarungserfolg zu erzielen. Und auch die Weibchen sind gut beraten, nicht zu schlank zu sein. Bei ihnen geht es dabei eher weniger darum, von einem Männchen auserwählt zu werden, sondern viel mehr die Schwangerschaft mit anschließender Jungenaufzucht durchzustehen. Denn ist das Muttertier im August zu sehr ausgehungert, nistet sich das befruchtete Ei nicht ein und die Trächtigkeit wird abgebrochen. Wird die Trächtigkeit fortgesetzt, muss das Tier nicht nur mehr Nahrung aufnehmen, um die Jungen mitzuversorgen, sondern auch Reserven für eine etwa einmonatige Winterruhe in einer Geburtshöhle anfressen. Ob ein Eisbär also seine Gene in die nächste Generation weitergibt, hängt also maßgeblich von seinem Ernährungszustand ab.

Allein, frierend und zu schwach zum Jagen bleibt dir letztendlich also nichts anderes mehr übrig, als die Tage bis zu deinem unausweichlichen Ende zu zählen und darauf zu hoffen, wenigstens in Ruhe und nicht als Nachmittagssnack eines Artgenossen zu enden.

Ich weiß, diese Geschichte ist etwas radikal und im realen Leben sind einige Eisbärenschicksale vielleicht nicht ganz so dramatisch, doch das Leben unter arktischen Bedingungen verzeiht nahezu keine Zweifel und Fehler. Eisbären leben deshalb, wie fast alle anderen Lebewesen, am besten damit, ihren Instinkten zu folgen. Dementsprechend hat sich evolutionär wahrscheinlich auch kein (Selbst-)Bewusstsein bei ihnen entwickelt. Der Mensch ist eine der Ausnahmen und höchstwahrscheinlich auch die einzige Lebensform auf unserem Planeten, bei der das bewusste Handeln in diesem Ausmaß das instinktive Handeln ersetzt hat. Uns bringt unser Bewusstsein in der Regel evolutionäre Vorteile und doch kann es uns zurückhalten und einschränken, wenn man sich dessen nicht bewusst ist, dass auch das eigene Bewusstsein fehlbar ist. Gedanken über das eigene Erscheinungsbild sind zwar nicht vollkommen unbegründet – immerhin spielt es beispielsweise auch bei unserem Sozialverhalten eine große Rolle – doch in den meisten Fällen aus natürlicher Perspektive betrachtet kontraproduktiv und eher durch die Sozialisation hervorgebracht. Doch auch aus dieser Sozialisation kann man als Mensch im Normalfall nicht ausbrechen, insofern möchte ich einfach dazu anregen, das ein oder andere Mal, wenn diese unvermeidbaren und manchmal so unüberwindbar wirkenden Zweifel über den eigenen Körper aufkommen, den Standpunkt zu wechseln und an den beeindruckenden, arktischen Überlebenskünstler und den Nutzen seiner Ernährung und seines Körperbaus zu denken! Vielleicht lässt sich ja dann die nächste Portion Fish & Chips mit weniger schlechtem Gewissen genießen! 😉

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