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Mensch und natürliche Evolution – passt das (noch) zusammen?

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Wir schreiben das Jahr 2021. Der Grundbauplan des Menschen ist mittlerweile zwischen 200.000 und 300.000 Jahre alt. Bis heute hat sich daran nur wenig verändert und trotzdem sind die Menschen grundlegend andere als damals. „Kulturelle Evolution“ fällt hier als Stichwort, um diesen fundamentalen Unterschied zu erklären. Heute ist der Homo sapiens so variantenreich wie kaum eine andere Art, Wissenschaft und Technik dominiert unseren Alltag und individuelle Entwicklung und Personal Growth sind die Schlagwörter unserer Generation. Doch entwickeln wir uns auch noch als Art? Wohin entwickeln wir uns? Spielt die natürliche Evolution dabei noch eine Rolle? Und wer ist dieser Homo sapiens eigentlich?

„Wer bin ich?“, „Woher komme ich?“ und „Wohin gehe ich?“ – das sind die drei großen Fragen, die zum menschlichen Leben gehören wie der Schiffshalterfisch zum Mantarochen. Es sind Fragen des Alltags und doch so viel mehr als das. Zahlreiche Wissenschaften, darunter die Philosophie sowie die Soziologie, die Theologie, die Psychologie und nicht zuletzt die Biologie umkreisen in ihrem tiefsten Kern diese drei so harmlos daherkommenden Fragen. Und erlaubt mir zu spoilern: Zufriedenstellend und endgültig beantworten kann sie trotzdem niemand! Das heißt aber nicht, dass man es nicht versuchen kann und einen solchen Versuch möchte ich an dieser Stelle von meinem doch weitestgehend naturwissenschaftlich angehauchtem Standpunkt aus unternehmen.

„Ich bin ein Mensch mit all meinen Fehlern“

Tim Bendzko – Keine Maschine

Nicht nur Tim Bendzko beantwortet wohl die Frage nach dem „Wer-bin-ich“ mit diesen Worten. Tatsächlich ist es, meiner Meinung nach, auch die unverfänglichste Art, auf diese Frage zu antworten. Denn bei allen binären und non-binären Zuordnungen, die man als Mensch der heutigen Zeit selbst vornehmen kann oder die von anderen Menschen vorgenommen werden, ist die Zuordnung zur Art Homo sapiens (der verstehende/vernünftige Mensch) die am wenigsten bestreitbare. Obwohl das allein schon eine Aussage ist, mit der ich mich sehr weit aus dem Fenster lehne, steht doch bereits heutzutage eine Vielzahl an alternativen (philosophischen) Bezeichnungen für den Menschen zur Debatte. Um nur einige bekannte Beispiele zu geben, seien an dieser Stelle Homo sociologicus (der soziologische Mensch; Max Weber), Homo ludens (der spielende Mensch; Johan Huizinga), Homo oeconomicus (der ökonomische Mensch; Max Weber/Gordon Tullock), Homo faber (der schaffende Mensch; Benjamin Franklin/Karl Marx), Homo academicus (der akademische Mensch; Pierre Bourdieu) oder Homo technologicus (der technologische Mensch; Yves Gingras) genannt. Als Fan der klaren Struktur und Eindeutigkeit möchte ich mich allerdings an dieser Stelle an die biologische Systematik halten und mich mit der Bezeichnung Homo sapiens zufriedengeben.

Aber was macht diesen Homo sapiens nun aus? Um den Menschen von anderen (Menschenaffen-)Arten zu unterscheiden, sind vor allem drei Merkmale wichtig: der aufrechte Gang, das vergrößerte Gehirn (und die damit einhergehenden Veränderungen der Schädelstruktur) sowie die Haut beziehungsweise die geringe Behaarung. Betrachtet man allerdings nur diese drei körperlichen Eigenschaften als Abgrenzungsmerkmale, so erhält man nur eine äußerst unbefriedigende Definition des Menschen. Immerhin würden die wenigsten von uns behaupten, dass sie sich nur aufgrund der Kombination aus aufrechtem Gang, großem Gehirn und wenigen Haaren von anderen Tieren unterscheiden. Ich spreche an dieser Stelle übrigens von der Kombination aus diesen Merkmalen, da keines der einzelnen Merkmale einzigartig für den Menschen ist. Den aufrechten Gang auf zwei Beinen gibt es beispielsweise auch bei Pinguinen, das Gehirn der Elefanten oder der Grindwale ist bedeutend größer als das des Menschen und fehlende Behaarung kommt sowohl bei Vögeln, Reptilien und Amphibien als auch bei anderen Säugetieren wie Nacktmullen vor.

Was körperlich beim Menschen allerdings heraussticht, ist die verhältnismäßig große Großhirnrinde mit den stark ausgeprägten Arealen Impulskontrolle, emotionale Regulation, zielgerichtetes Handeln und Selbstkorrektur. Das wird kaum jemanden überraschen, denn die starke Ausprägung dieser Fähigkeiten ist nicht zuletzt die Grundlage für die Sozialität und die Schaffung einer Kultur. In Abgrenzung zum Tierreich wurde lange Zeit vor allem eben diese Kultur, aber auch das Sprachvermögen als Alleinstellungsmerkmal des Menschen betrachtet. Mittlerweile geht man aber davon aus, dass sowohl Kultur als auch Sprache auch bei anderen Lebewesen wie beispielsweise Delfinen vorkommt, diese eben nur (noch) nicht vom Menschen entschlüsselt und verstanden werden können.

Wozu führt nun aber diese lange Rede über die Merkmale des Homo sapiens? – Eigentlich nur dazu, dass es kein einzelnes, äußerlich sichtbares Merkmal gibt, das den Menschen als Menschen definiert, sondern die Kombination aus zahlreichen Merkmalen zu einer Abgrenzung von anderen Lebewesen führt. Einzig und allein über die DNA lässt sich der Mensch mit nur einem Vergleichsobjekt ebenso gut abgrenzen. Dabei würden allerdings auch Unterschiede innerhalb der Art aufgedeckt, auch wenn deren Anteil an der Gesamt-DNA mit 0,01 Prozent verschwindend gering ist. So weit so gut, damit hätten wir den Homo sapiens in seinen Grundzügen beschrieben. Doch war er in dieser Form bereits vor über 200.000 Jahren auf unserer Erde unterwegs. Seitdem hat sich nicht nur die Erde, sondern auch und vor allem der Mensch verändert.

„Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile“

Aristoteles

Um zu verstehen, warum sich der heutige Mensch vom vergangenen Menschen unterscheidet, lohnt es sich, die zweite Frage des menschlichen Lebens zu betrachten: „Woher komme ich?“ Dabei möchte ich gleich zu Beginn festhalten, dass ich es persönlich sehr verwirrend finde, von DER menschlichen Evolution zu sprechen. Meiner Meinung nach ist DIE menschliche Evolution viel eher eine Abfolge mindestens zweier unterschiedlicher Evolutionen, die unterschiedliche Einflüsse auf das Produkt „Mensch“ hatten und haben.

Zunächst ist die Geschichte der Menschwerdung eine Geschichte der natürlichen Evolution. All die körperlichen Eigenschaften und die marginalen Unterschiede in der DNA im Vergleich zu anderen Lebewesen sind durch einen Evolutionsprozess, wie Darwin ihn für andere Lebewesen beschrieben hat, entstanden: Zufällige Mutationen führten zu zufälligen körperlichen Veränderungen, die durch natürliche Selektion entweder direkt aussortiert wurden oder aber den Individuen eine höhere „Fitness“ verschafften, weshalb sie größere Paarungserfolge verbuchen konnten und so Schritt für Schritt ihre zufällig entstandene Eigenschaft in Folgegenerationen weitergaben. Über Jahrhunderte entwickelte sich so aus dem Menschenaffen über den Australopithecus, den Homo habilis und den Homo erectus in Europa der Homo neanderthalensis und in Afrika der Homo sapiens, welcher letztlich den Neandertaler verdrängte oder sich mit ihm zum heutigen Homo sapiens vermischten. Soweit erstmal relativ unspektakulär.

Doch, wie schon angedeutet, war damit die Entwicklung des Menschen nicht zu Ende. Vielmehr begann eine zweite, durch die Ergebnisse der natürlichen Evolution bedingte Entwicklungsstufe: die kulturelle Evolution, die bis heute andauert. Zu ihr zählen sämtliche Erfindungen des Menschen vom Werkzeuggebrauch über den Ackerbau bis hin zur Glühbirne. Jede Erfindung beeinflusste die Lebensweise der Menschen und damit ihre Entwicklung. Interessant wird dies nun, wenn man überlegt, wo diese Entwicklung im Menschen festgeschrieben ist. Tatsächlich führen einige durch Erfindungen hervorgebrachten Veränderungen in der Lebensweise dazu, dass in kleineren Wellen natürlicher Evolution bestimmte Eigenschaften entstehen. So haben beispielsweise laktosetolerante Menschen bei der Entwicklung zur Sesshaftigkeit einen Vorteil, weil eine zusätzliche Nahrungsquelle erschlossen werden kann, oder sind Menschen in Gebieten mit hoher Sonneneinstrahlung begünstigt, wenn sie mehr Melanin bilden und dadurch eine dunklere Haut besitzen. In dieser Phase ergänzen sich also natürliche und kulturelle Evolution.

Viele Erfindungen haben allerdings (bisher) keinen solchen Einfluss ausgeübt, sondern werden ausschließlich über „gedankliche“ Konstrukte von Generation zu Generation weitergegeben und entwickelt. Es steht also die Frage im Raum, ob die weitere körperliche Entwicklung als Antwort auf die fortschreitende kulturelle Evolution noch aussteht (immerhin kann Evolution erst rückwirkend beobachtet werden) oder ob es diese schlichtweg nicht mehr gibt und der Mensch natürlich „ausentwickelt“ ist.

„Entwicklung ist der Zweck des Lebens, das Leben selbst ist Entwicklung“

Georg Büchner

Von einer „Ausentwicklung“ zu sprechen, halte ich, auch wenn momentan keine Effekte erkennbar sind, für unwahrscheinlich. Dafür müsste das menschliche Genom faktisch eingefroren sein und dürfte sich nicht mehr verändern. Dass es das allerdings tut, zeigen unter anderem Krankheiten, die durch Mutationen hervorgerufen werden. Trotzdem sieht die „natürliche“ Evolution beim Menschen heutzutage anders aus als noch bei seiner Entstehung, weshalb ich es fast unangebracht finde, hier noch von natürlicher Evolution zu sprechen.

Der Mensch ist seiner Umwelt nur selten ausgeliefert. Vielmehr macht er sie im Zuge der kulturellen Evolution zu seinem Werkstück und modelliert sie, solange bis er mit ihr umgehen kann. Nicht nur Fortschritte in der Naturwissenschaft und Medizin, sondern vor allem Entwicklungen von Sozialstrukturen und Werte- und Normsystemen führen dazu, dass mit zufälligen, körperlichen Veränderungen anders umgegangen werden kann und anders umgegangen wird als noch vor 200.000 Jahren. Krankheiten werden behandelt, andere (im Idealfall) nicht von der Gesellschaft ausgestoßen und verlassen, natürliche Nahrungsmittel ersetzt und menschlicher Lebensraum vor Naturgewalten geschützt. Das heißt konkret: Die größten natürlichen Selektionsdrücke und damit Evolutionsfaktoren sind beim Menschen nahezu komplett außer Kraft gesetzt beziehungsweise auf dem Weg dahin, außer Kraft gesetzt zu werden.

Die derzeitige Corona-Pandemie macht allerdings deutlich, dass sich nicht nur der Mensch, sondern auch seine Umwelt weiterentwickelt und Leben ein konstanter Wettbewerb des Lebewesens mit seiner Umwelt ist. Einmal mehr zeigt sie aber auch, dass der Mensch nicht als natürliches Wesen auf einen natürlichen Gegner reagiert und nicht in einem gleichberechtigten Evolutionswettstreit gegen ihn ankämpft. Während sich das Virus mit „natürlichen“ Mutationen entwickelt, haben wir unsere Entwicklung in die Wissenschaft ausgelagert. Es ist nicht mehr unser Immunsystem, das sich Strategien gegen den neuen, unbekannten Gegner ausdenkt, sondern schlaue Köpfe in einem Labor, die in Jahrhunderte langer Kleinstarbeit die Welt nach und nach zu verstehen beginnen und dieses Wissen als evolutionäre Waffe nutzen. Dies geschieht einerseits, weil wir uns durch unsere Werte und Normen gegenseitig vor natürlicher Selektion schützen, indem kein Leben kampflos von der Gesellschaft aufgegeben wird und andererseits, weil wir es aufgrund unserer bisherigen Evolution diese Fähigkeit erlangt haben und so wiederum dem Lauf der Natur folgen, gewonnene Vorteile zum Erhalt der Art einzusetzen. Was aber passiert mit dem biologischen Menschen, wenn seine Evolution außerhalb des Körpers stattfindet? Wie und wohin entwickelt er sich? 

„Fortschritt ist nur die Verwirklichung von Utopien“

Oscar Wilde

Nun kann ich nicht in die Zukunft schauen, aber persönlich stelle ich mir vor, dass der Mensch tatsächlich nicht mehr von der Natur „überrascht“ werden kann und natürliche Prozesse, die nicht unabdingbar die gesamte Erde vernichten, kaum mehr eine Rolle bei seiner körperlichen Entwicklung spielen. Vielmehr führen natürliche Veränderungen zu einer Beschleunigung der kulturell-technischen Evolution, welche wiederum auf den Menschen zurückwirkt und für körperliche Anpassungen verantwortlich ist. Zudem kann ich mir vorstellen, dass die natürlichen Selektionsdrücke zunehmend durch sozial-gesellschaftliche Drücke ersetzt, welche einzelne Individuen oder Gruppen zu Entwicklungen zwingen. Insofern halte ich für die Zukunft eine gemeinsame Artentwicklung für genauso unwahrscheinlich wie eine ausbleibende Entwicklung. Diese wird sich allerdings an unterschiedlichen Standorten je nach gesellschaftlichen Bedingungen anders vollziehen. Das wirft auch die Frage auf, wann rückwirkend betrachtet von einem neuen Menschen die Rede sein kann. Bleibt es weitere Jahrtausende lang bei der einen heterogenen und bunten Art Homo sapiens oder hält doch irgendwann der Homo technologicus Einzug? Wie viele außerkörperlichen Ergänzungen darf ein Mensch haben, um Mensch zu bleiben? Und wozu führen geografisch-gesellschaftliche Unterschiede in der menschlichen Evolution?

Das Thema ist und bleibt spannend, jedoch auch nicht in unserer Lebensspanne zufriedenstellend behandelbar. Wir sind nun mal die einzigen Lebewesen auf dieser Erde, die durch eine Selbstbeobachtung versuchen, ihre eigene Evolution in Echtzeit zu verstehen, während alles, was wir über die Evolution wissen, aus Beschreibungen der Vergangenheit und Fremdbeobachtungen anderer Lebewesen stammt. Wahrscheinlich müssen wir uns also damit abfinden, dass wir niemals wissen können, wohin unsere Reise, sowohl im großen als auch im kleinen Kontext, geht. Das bedeutet aber nicht, dass wir uns keine Vorstellungen davon machen können. Denn eben diese Vorstellungen sind häufig die Quelle der menschlichen Entwicklung, egal ob in technischer, gesellschaftlicher oder persönlicher Hinsicht. Im Endeffekt aber ist und bleibt jede Entwicklung ein Selbstläufer, die mithilfe unserer Vorstellungskraft jedoch manchmal um einiges schneller vonstattengeht, als man denkt. 😉

„Manches, das am Morgen noch Utopie gewesen ist, ist zu Mittag bereits Science-Fiction und am Abend schon Wirklichkeit“

Jerry Lewis
Nachklapp:

Ich versuche gerade herauszufinden, ob meine Vorstellung der zukünftigen menschlichen Evolution eher dystopisch oder utopisch ist. Habt ihr euch schonmal überlegt, ob ihr, über eure eigene Zukunft hinaus, eher von einer idealen Zukunft träumt oder euch Sorgen darum macht? Was treibt uns Menschen eher zu aktiven Veränderungen an: Träume oder Angst? Entwickeln wir uns, weil wir Idealen nachjagen oder weil wir das Schlimmste vermeiden wollen? Und warum ist es bei anderen Lebewesen so ausgeschlossen, dass sie sich nach einem ähnlichen „inneren Drang“ entwickeln? Wenn der darwinsche Evolutionsbegriff nicht für den Menschen ausreicht, warum dann für alle anderen Lebensformen? Müssen wir die Evolution neu überdenken, wenn tatsächlich andere Lebewesen auch eine Kultur besitzen? Und spielt nicht Lamarcks Evolutionsgedanke klammheimlich beim Menschen schon eine riesengroße Rolle? Fragen über Fragen, über die es sich sicherlich nachzudenken lohnt… 

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